Dank CDU/CSU werden Schwerstkriminelle frei gelassen

Da hat uns die Law-and-Order-Politik der Union mit ihrem Motto “wegschließen und vergessen” mit der Verschärfung der Sicherheitsverwahrung ein ordentliches Ei gelegt: Nach jahrelangem Streit und langwierigem Gesetzgebungsverfahren sind die Hardliner der CDU/CSU dafür verantwortlich, dass ab Jahresende Schwerstkriminelle untherapiert in die Freiheit entlassen werden müssen.

Trotz dieser Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 5. Februar 2004:

Erforderlich ist aber auch [bei fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten], die Eigenständigkeit des Untergebrachten zu wahren, seine Würde zu achten und zu schützen. Daher muss die Sicherungsverwahrung ebenso wie der Strafvollzug darauf ausgerichtet sein, die Voraussetzungen für ein verantwortliches Leben in Freiheit zu schaffen.

ist das Bundesverfassungsgericht damals der Ansicht gewesen, dass eine nachträgliche Sicherheitsverwahrung rechtmäßig wäre. Dabei hat das Gericht im gleichen Urteil festgestellt,

dass Entscheidungen über die Freiheitsentziehung auf Grund einer Prognose keine von vornherein unbegrenzte Wirkung zukommen darf.

Eigentlich sollte es in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein, dass alle Straftäter darauf hoffen dürfen, eines Tages wieder in Freiheit zu leben. Um so mehr gilt dies für Menschen, die ihre Strafe bereits abgesessen haben und nur zu unserem Schutz in Sicherheitsverwahrung leben. Vermutlich sind dem Bundesverfassungsgericht die genaueren Umstände entgangen, unter denen Menschen in Sicherheitsverwahrung leben.

Daher musste sich sowohl unser Bundesverfassungsgericht als auch unsere Bundesregierung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zwei Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention im Urteil vom 17. Dezember 2009 erklären lassen:

Verstoß gegen Artikel 5 – Recht auf Freiheit und Sicherheit: “Die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung war daher anfangs von Artikel 5 Abs. 1 erfasst. Der Gerichtshof möchte jedoch hinzufügen, dass die Entscheidungen der Vollstreckungsgerichte, den Beschwerdeführer weiter in Haft zu halten, das Erfordernis der „Verurteilung“ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a nicht erfüllen, da sie keine Schuldfeststellung mehr beinhalten.[...]

In jedem Fall begründeten die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidungen, den Beschwerdeführer weiter unterzubringen, nicht damit, er sei psychisch krank. Daher kann seine Freiheitsentziehung auch nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e gerechtfertigt werden.”

**Verstoß gegen Artikel 7 – Keine Strafe ohne Gesetz: **“Die Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers [...] stellt eine zusätzliche Strafe dar, die gegen den Beschwerdeführer nachträglich nach einem Gesetz verhängt wurde, das erst in Kraft trat, nachdem der Beschwerdeführer seine Straftat begangen hatte.”

Ein wesentlicher Grund für dieses Urteil lag in der fehlenden oder gar fachkundigen Betreuung während der Sicherheitsverwahrung, so dass Gefangene keine Hoffnung hegen konnten, eines Tages aus ihrem Gewahrsam entlassen zu werden.

Diese Einschätzung hat der EGMR dann in einem Urteil vom 13. Januar 2011 nochmals bestätigt und damit auch das Gesetz zur nachträglichen Sicherheitsverwahrung aus 2004 aufgehoben – übrigens im nahezu gleichen Wortlaut ihrer Entscheidung von 2009.

Der EGMR hat in seinem Urteil – wenig überraschend aber sehr deutlich – festgestellt:

Darüber hinaus kann die „Freiheitsentziehung” einer Person als psychisch Kranker nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann im Sinne von Abs. 1 Buchstabe e „rechtmäßig“ sein, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt (siehe Rdnr. 78). In der vorliegenden Rechtssache war der Beschwerdeführer bis zum 28. Juli 2004 in einer normalen Justizvollzugsanstalt untergebracht. [...] Deshalb bestand kein hinreichender Zusammenhang zwischen der angeblichen Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers als psychisch Kranker und seiner Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt sowie den dortigen Bedingungen.

Gestern hat unser Bundesverfassungsgericht mit Bezug auf den EGMR im Urteil vom 4. Mai 2011 seine Entscheidung aus dem Jahr 2004 revidiert:

Die Sicherungsverwahrung ist nur zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Konzeption dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der „äußeren“ Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden. Dem muss durch einen freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug Rechnung getragen werden, der den allein präventiven Charakter der Maßregel sowohl gegenüber dem Untergebrachten als auch gegenüber der Allgemeinheit deutlich macht. Die Freiheitsentziehung ist – in deutlichem Abstand zum Strafvollzug („Abstandsgebot“, vgl. BVerfGE 109, 133 <166>) – so auszugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt.

Das Bundesverfassungsgericht stellt folgerichtig fest, dass folgende Gesetzesparagraphen nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar sind:

  • StGB § 66 vom 27. Dezember 2003
  • StGB § 66 vom 22. Dezember 2010
  • StGB § 66a vom 22. Dezember 2010
  • StGB § 66a Absatz 1 und Absatz 2 vom 21. August 2002
  • StGB § 66b vom 22. Dezember 2010
  • StGB § 66b Absatz 1 vom 13. April 2007
  • StGB § 66b Absatz 2 vom 13. April 2007
  • StGB § 66b Absatz 3 vom 23. Juli 2004
  • StGB § 67d Absatz 2 Satz 1 vom 26. Januar 1998
  • StGB § 67d Absatz 3 Satz 1 vom 26. Januar 1998
  • StGB § 67d Absatz 3 Satz 1 vom 22. Dezember 2010
  • JGG § 7 Absatz 2 vom 8. Juli 2008
  • JGG § 7 Absatz 3 vom 22. Dezember 2010
  • JGG § 7 Absatz 3 vom 8. Juli 2008
  • JGG § 106 Absatz 3 Satz 2 und Satz 3 vom 27. Dezember 2003
  • JGG § 106 Absatz 3 Satz 2 und Satz 3, Absatz 5 und Absatz 6 vom 22. Dezember 2010
  • JGG § 106 Absatz 5 vom 13. April 2007
  • JGG § 106 Absatz 6 vom 23. Juli 2004

Das Bundesverfassungsgericht gibt unserer Regierung zwei Jahre Zeit, um die Rechtmäßigkeit dieser Strafgesetze wieder herzustellen (also bis Mai 2013). Das klingt machbar, aber dafür müsste Frau Merkel die Hardliner aus der Union zum Schweigen bringen. Das wiederum scheint bei diesem hoch emotionalen und komplexen Thema eher unwahrscheinlich.

Lassen wir uns überraschen: Bei der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2013 können wir dann über das Ergebnis abstimmen. Hoffen wir, dass wir für das Ergebnis nicht die nächste Klatsche vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kassieren.